Politische Perspektiven:
III.11. Politik jenseits enger Grenzen - das Projekt Europa

(1) Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen für eine Politik, die den Frieden als bestimmenden Wert einer Gesellschaft betrachtet. Daher ist für uns die Einigung Europas ein entscheidendes Friedensprojekt. Nur durch den schrittweisen Aufbau eines gemeinsamen Europa können die Voraussetzungen geschaffen werden, Konflikte zwischen Staaten, aber auch zwischen ethnischen Gruppen, friedlich zu regeln. Für uns ist die Europäische Union daher eine Gemeinschaft der Solidarität, der Chancengleichheit, der Toleranz und der Sicherheit, die all jenen Staaten Europas offenstehen muß, die diese Werte teilen und die gemeinsam festgelegten Voraussetzungen erfüllen.

(2) Wir werden nur dann breite Zustimmung in der Bevölkerung für das neue Europa finden, wenn es nicht nur um die Herstellung eines gemeinsamen Marktes geht, sondern in Ergänzung zum Projekt der Friedenssicherung um ein Europa der Bürgerinnen und Bürger, um ein Europa der Arbeit und der sozialen Sicherheit. Zu dieser breiten Akzeptanz ist es daher erforderlich, alle Politikfelder der europäischen Union im Sinne einer querschnittsorientierten Gleichstellungspolitik weiterzuentwickeln.

(3) Eine besondere Herausforderung und Chance sehen wir darin, die soziale Dimension Europas zu stärken. Arbeitslosigkeit wird von uns niemals akzeptiert werden. Sie muß auf nationaler Ebene, aber auch durch verstärkte Anstrengungen auf europäischer Ebene bekämpft werden. Die neue Qualität der europäischen Einigung durch die Herstellung einer Wirtschafts- und Währungsunion muß auch durch die Inangriffnahme einer Beschäftigungs- und Sozialunion ihre notwendige Ergänzung finden. In diesem Zusammenhang haben auch die Sozialpartnerschaft und die Gewerkschaften eine wichtige internationale Rolle.

(4) Das Europa der Bürger ist ein Europa, das seine demokratischen Strukturen weiterentwickeln muß. Der Einigungsprozeß ist notwendigerweise mit dem Aufbau zentraler europäischer Institutionen verbunden. Solche bergen immer die Gefahr einer Verselbständigung und einer Entfernung von den Interessen der Bürger in sich. Daher bedarf es auch einer aktiven europäischen sozialdemokratischen Partei und eines starken Europäischen Parlaments. Wir brauchen aber auch eine lebendige zivile Gesellschaft mit vielen privaten Initiativen und Organisationen auf europäischer Ebene. Unser Europa ist ein Kontinent der lebendigen Demokratie, des Rechts und der Freiheit.

(5) Sicherheit in Europa bedeutet heute nicht in erster Linie militärische Sicherheit. Viele akute Bedrohungen sind nicht-militärischer Art: Ökonomische und ökologische Krisen stellen realistischere Bedrohungen dar als kriegerische Konflikte.

(6) Wir wollen, daß europäische Sicherheitspolitik nicht nur militärisch konzipiert und organisiert wird. Europäische Sicherheitspolitik hat vorausschauend und vorbeugend Maßnahmen zur Stabilitätsförderung und Demokratiesicherung zu setzen. Die Sozialdemokratie verfolgt den Gedanken einer Sicherheitspartnerschaft mit dem Ziel, Sicherheit miteinander statt gegeneinander zu gewährleisten.

(7) Die effektivste Gewaltprävention ist die Entwicklung Europas zu einer Zone demokratischer Rechtsstaaten. Demokratien führen in aller Regel keine Kriege gegen andere Demokratien. Daher treten wir dafür ein, die europäische Stabilitätszone auszuweiten. In ihr stehen Maßnahmen zur Förderung der Demokratie, Rüstungskontrolle und Abrüstung, Instrumente des Minderheitenschutzes, friedliche Streitbeilegung sowie Konsultation und Kooperation, Frühwarnung und Vermittlung im Vordergrund, ergänzt durch das Spektrum des militärischen Krisenmanagements.

(8) Die Perspektiven für ein europäisches Sicherheitssystem haben sich seit Ende der Bipolarität und des Kalten Krieges radikal geändert. Standen vor 1989/90 für den Westen die Verteidigung Westeuropas und der USA im Vordergrund, so wird auf absehbare Zukunft kooperative Konfliktprävention und Krisenmanagement entscheidend sein.

(9) Ein Militärbündnis ist dafür kein geeignetes Instrument, weil Friedenspolitik nach Ende des Kalten Krieges sinnvollerweise nicht mehr in nuklearer oder konventioneller Abschreckung durch ein kollektives Verteidigungsbündnis bestehen kann. Ein künftiges europäisches Sicherheitsmodell muß weit darüber hinaus gehen und auf sehr flexiblen Strukturen (Konfliktprävention, Krisenmanagement, internationale Solidaritätseinsätze usw.) beruhen, sodaß für große wie kleine Staaten vielfältige Sicherheitsstrategien und verschiedene Formen der Kooperation und Konsultation möglich werden.

(10) Österreich verfügt in Form der Neutralität, in Kombination mit internationaler kooperativer Solidarität, über ein bewährtes Sicherheitskonzept. Es gestattet eingegangene Verpflichtungen in vertragstreuer und solidarischer Weise wahrzunehmen. Wir lehnen daher eine automatisierte Verpflichtung zur Teilnahme an militärischen Operationen in einem Bündnis ab. Wir benötigen auch keinen Bündnisbeitritt, um unsere internationale Solidarität unter Beweis zu stellen. Wir leisten schon bisher einen - bezogen auf unsere Bevölkerungszahl - überproportionalen Beitrag zur internationalen Friedenssicherung.

(11) Im Rahmen dieser Konzeption bekennen wir uns zu einer demokratisch organisierten Landesverteidigung. Den Angehörigen des Bundesheers sind alle Persönlichkeitsrechte sowie menschenwürdige Bedingungen bei der Erfüllung ihrer Aufgabe zu gewährleisten.

(12) Die Entwicklung der Nationalstaaten war seit der Aufklärung eng verbunden mit dem Kampf gegen das individuelle Faustrecht, welches durch den Aufbau des Rechtsstaates und durch die Schaffung des Gewaltmonopols des Staates zurückgedrängt und abgeschafft wurde.

(13) In weiterer Konsequenz gilt es nunmehr, durch die Schaffung supranationaler rechtsstaatlicher Strukturen und durch ein Gewaltmonopol für legitimierte Organe der Völkergemeinschaft, das "internationale Faustrecht" in Form militärischer Aggression zurückzudrängen und zu überwinden und damit zur dauerhaften Friedenssicherung beizutragen.

(14) Teil dieser Bemühungen sollte die Entwicklung einer gemeinsamen friedensorientierten europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sein, die - eingebettet in eine globale Sicherheitspolitik - dazu führen soll, daß in Europa Kriege zwischen Staaten und die Anwendung von Gewalt zur Lösung politischer Probleme der Geschichte angehören.

(15) So wenig es heute für Österreich einen plausiblen Grund gibt, einem Militärbündnis beizutreten und auf die österreichische Neutralität zu verzichten, wäre doch ein solches europäisches Sicherheitssystem und eine neue Kultur bei der Bewältigung von Konflikten ein Friedensmodell, dem sich kein europäischer Staat entziehen sollte.

(16) Die Erweiterung der Europäischen Union betrachten wir als Erweiterung einer Zone des Friedens und der Stabilität. Sie muß schrittweise und nach sorgfältiger Vorbereitung bzw. nach einer Periode der Annäherung der Sozial- und Umweltstandards erfolgen, um sicherzustellen, daß die Erweiterung auch unter wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten Vorteile für ganz Europa bringt. Auch nach Vollendung des Prozesses der Erweiterung der Europäischen Union wird Europa keine Festung gegenüber anderen Völkern und Kontinenten sein, sondern dialogbereit und weltoffen.