Politische Perspektiven:
III.9. Bildung als Chance der Entfaltung aller Fähigkeiten des Menschen und der Gesellschaft - die Zukunft unseres Bildungssystems

(1) Wir treten für eine Gesellschaft ein, in der alle Menschen gleiche Chancen der Entwicklung finden, und arbeiten daher für ein Bildungssystem, das Möglichkeiten und Anlagen der Menschen entdeckt und entwickelt sowie Kritikfähigkeit und Solidarität fördert. Bildung und Ausbildung sind grundlegende Elemente einer Kultur des Zusammenlebens und der Toleranz sowie zugleich zentraleVoraussetzung, den Lebensstandard auch unter den Bedingungen weltweiten Wettbewerbs zu halten.

(2) Bildung bestimmt auch wesentlich den Grad an Reife, der eine demokratische Gesellschaft auszeichnet. Menschen, die Bildung als Chance erlebt und gelernt haben, sich selbst Meinungen zu bilden, sind in der Regel besser gerüstet gegen Denken in Schwarz-Weiß-Mustern, politische Verhetzung und Demagogie. Bildung hat in der sich verändernden Welt bei der Zuweisung von Lebenschancen eine immer größer werdende Bedeutung. Deshalb wollen wir ein Bildungssystem, das im Zusammenwirken mit Wirtschafts- und Sozialpolitik dazu beiträgt, soziale Gerechtigkeit, Solidarität und aktive Mitgestaltung von politischen Prozessen zu fördern.

(3) Bildung ist die Grundlage, um sich in einer Welt der immer rascheren Veränderung selbst und gemeinsam mit anderen Menschen zurecht zu finden. Wir treten daher für ein Bildungsangebot ein, das neben Fachwissen und Berufsvorbereitung auch fachübergreifendes Denken, soziale Kompetenz und kulturübergreifende Kooperationsfähigkeit entwickeln hilft. Bildung ist die Voraussetzung, um Chancen in der Gesellschaft wahrzunehmen, und ist damit der Schlüssel für ein selbstbestimmtes, selbstgestaltetes Leben.

(4) Wir wollen daher ein Bildungssystem, das Neugier, Lust am Lernen, Eigenständigkeit sowie Interesse an anderen Menschen und an der Welt fördert, das Ängste abbauen und Mut entwickeln hilft. In diese Richtung gilt es das bestehende Bildungssystem weiterzuentwickeln. Wir wollen weg vom Disziplinieren, hin zum Wecken von Interesse, weg vom Auswählen besonders "Geeigneter", hin zum optimalen Fördern aller in den Menschen steckenden Möglichkeiten, weg vom bloßen Beseitigen von Schwächen, hin zum gezielten Entwickeln von Stärken.

(5) Unsere Perspektive geht weg vom unreflektierten Eingeben und Abrufen von Fakten- und Datenwissen, hin zum Vermitteln der Fähigkeit, neues Wissen richtig zu verarbeiten und anzuwenden, weg vom reinen Frontalunterricht, hin zu Unterrichtsformen, durch die Bildungsinhalte aktiv erarbeitet und die Entwicklung der Persönlichkeit sowie die Bereitschaft zur Diskussion und zur demokratischen Willensbildung gefördert werden. Das Prinzip des gemeinsamen Lernens muß vor dem der individuellen Leistung stehen.

(6) In diesem Zusammenhang treten wir dafür ein, die Chancen und Potentiale von Mädchen und Buben jeweils voll zu entwickeln. Die Erziehung vom Kindergarten bis zu den Universitäten soll unter Bedachtnahme auf ihre unterschiedlichen Bedürfnisse gemeinsam sein (geschlechtersensible Koedukation). Chancengleichheit heißt hier auch ausgleichende Fördermaßnahmen zu entwickeln und regelmäßig zu überprüfen.

(7) Wir sehen Bildung als soziales Grundrecht aller Menschen. Lernende haben ein Recht auf ein Bildungssystem und auf Bildungsangebote, die ihren Bedürfnissen und Wünschen entsprechen und die der Staat zu sichern und in einer Weise zu finanzieren hat, die gleiche Chancen aller Menschen gewährleistet. Wir arbeiten daher auch weiterhin an der Herstellung von Chancengleichheit, wo heute noch ökonomische, soziale, geografische, geschlechtsspezifische, sprachlich-kulturelle oder andere Hürden oder Vorurteile gleichen Zugang zu den Bildungseinrichtungen und ihre Inanspruchnahme behindern. Das Bildungsangebot muß Menschen mit besonderen Problemen ebenso berücksichtigen wie besonders Begabte und Leistungsfähige. In diesem Zusammenhang ist uns vor allem die Integration von Menschen mit Behinderungen in unser Bildungssystem ein zentrales Ziel.

(8) Vor dem Hintergrund des europäischen Integrationsprozesses treten wir für die Entwicklung gemeinsamer europäischer Bildungskonzeptionen und -angebote sowie für ein Studienangebot ein, das den Wechsel zwischen den Universitäten der Mitgliedsländer problemlos erlaubt. Wir setzen uns für den verstärkten internationalen Austausch von Lernenden und Studierenden ein. In diesem Zusammenhang fordern wir Maßnahmen, die die Fremdsprachenkompetenz der Österreicherinnen und Österreicher erhöhen, wobei sich diese Maßnahmen nicht nur auf die Sprachen der Länder der Europäischen Union beschränken sollen.

(9) Wir schaffen die notwendigen Rahmenbedingungen rechtlicher Art und sichern die notwendigen Investitionen, um bereits möglichst früh eine kritische Auseinandersetzung mit und die Beherrschung von neuen Informations- und Kommunikationstechnologien zu vermitteln, weil die Chancen der Informationsrevolution im Interesse aller genutzt werden müssen.

(10) Wir treten für intensiven Austausch und verstärkte Zusammenarbeit zwischen Gesellschaft, Wirtschaft und Bildungssystem ein, um neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Anforderungen frühzeitig im Bildungsangebot aufgreifen zu können und damit Ausbildung anzubieten, die gebraucht wird.

(11) Wir setzen uns im Interesse einer weiteren Demokratisierung für eine weitgehende Autonomie der Schulen bei gleichzeitiger Einbettung in das regionale Umfeld ein sowie für verstärkte Mitbestimmung der Eltern und der Schülerinnen und Schüler. Die allgemeine Anerkennung erworbener Berechtigungen muß aber auch beim Ausbau der Autonomie gewahrt bleiben.

(12) Wir treten für ein durchlässiges Bildungssystem vom Kindergarten über eine gemeinsame Schule der 6-14-jährigen bis zu vielfältigen weiterführenden Angeboten ein. Dort sollen Lernprozesse in einer modularen Form gestaltet werden, die es ermöglicht, sie auch nach der schulischen Erstausbildung jederzeit zu ergänzen und zu vertiefen.

(13) Wir treten für eine Weiterentwicklung der Oberstufe ein. Sie muß breite berufsfeldorientierte Grundqualifikationen, umfassende Allgemeinbildung und Schlüsselqualifikationen vermitteln. Dies bedeutet eine deutliche Rücknahme des Spezialisierungsgrades und intensivere Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Schultypen bis hin zur Schaffung neuer und auf die Erfordernisse der Region abgestimmter gemeinsamer Schulformen unter Einbeziehung der Berufsschule.

(14) Bei der Weiterentwicklung des dualen Berufsausbildungssystems Lehre geht es um die Erweiterung der allgemeinbildenden Basis und um die Sicherung der beruflichen Qualifizierung, die Entkoppelung von Berufsausbildung und Gewerbeordnung, neue Berufsbilder, die dem Strukturwandel der Wirtschaft gerecht werden, die sinnvolle Bündelung von Berufsbildern, betriebsunabhängige praktische Ausbildungseinrichtungen und neue schulische Ausbildungsformen mit einem hohen Praxisanteil. Um den betrieblichen Teil der Lehrausbildung zu sichern, sind ein Lastenausgleich zwischen ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben sowie die Schaffung von Ausbildungsverbünden notwendig.

(15) Wir treten für eine Entlastung der Schüler und Studierenden von einem Übermaß an schnell veraltendem Wissensstoff zugunsten der Entwicklung von Methodensicherheit, Denk- und Arbeitsfähigkeit ein und für die Bereitstellung von Angeboten, die lebensbegleitend das Erwerben weiteren Wissens und weiterer Bildung sowie das Erwerben von Abschlüssen und Ausbildungen im zweiten Bildungsweg ohne finanzielle Barrieren möglich machen.

(16) Wir treten für den Abbau von Schranken ein, die den Zugang zur weiterführenden Bildung erschweren. Wir wollen mehr Menschen ohne traditionelle Matura und aus sozial schwächeren Familien im Interesse der Chancengleichheit ermöglichen, ein Studium zu beginnen und positiv zu absolvieren.

(17) Im Hochschul- und Universitätsbereich geht es um ein System, das Durchlässigkeit sichert, damit die individuellen Interessen bestmöglich verfolgt und die Möglichkeiten der Studierenden im Interesse der Gesellschaft optimal genützt werden können. Dies umfaßt auch eine vermehrte Anrechnung nichtuniversitärer Vorstudien und eigene Studienangebote für Berufstätige. Wir wollen einen ständigen Prozeß der Qualitätskontrolle organisieren, der sicherstellt, daß den Absolventinnen und Absolventen optimale Chancen ermöglicht werden.

(18) Wir treten für offenen Hochschulzugang, für Autonomie der Universitäten und Hochschulen, aber zugleich für deren Einbettung in die Gesellschaft ein. Die Kompetenz zu eigenständiger Regelung muß mit größerer Verantwortlichkeit, Rechenschaftspflicht, Transparenz und demokratischer Kontrolle, vor allem auch im Bereich der finanziellen Gebarung, einhergehen. Hochschulen und Universitäten sollen auch eine wichtige Funktion als Dienstleistungsunternehmen für die Entwicklung der Regionen wahrnehmen. In diesem Zusammenhang sollen Mitgestaltungsmöglichkeiten für die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite, aber auch für Absolventinnen und Absolventen ausgebaut werden.

(19) Auch im gesamten Hochschulbereich muß die Möglichkeit der demokratischen Mitbestimmung gesichert und erweitert werden. Darüber hinaus setzen wir uns für besondere Maßnahmen der Entwicklungs- und Karriereförderung von Frauen ein. Wir wollen einen fairen Anteil von Frauen an allen Positionen im Bereich der Universitäten und Fachhochschulen erreichen.

(20) Um auch die Lehrenden für die neuen Aufgaben zu rüsten, setzen wir uns für verbesserte Ausbildung der Lehrkräfte ein sowie für ein qualifiziertes Angebot berufsbegleitender Supervision und Fortbildung, das vor allem die Fähigkeit zu kommunizieren stärkt. Eine Gestaltung der Lernprozesse, die allen gleiche Entwicklungschancen bietet, kann nur dann gelingen, wenn Lehrende und Lernende solidarisch miteinander arbeiten.

(21) Lebensbegleitende Weiterbildung wird immer wichtiger. Wir sehen es als Aufgabe der öffentlichen Hand, daran mitzuwirken, daß in ganz Österreich ein bedarfsgerechtes Weiterbildungsangebot zur Verfügung steht, von dem niemand aus finanziellen Gründen ausgeschlossen ist. Um die Möglichkeit zur Teilnahme an Weiterbildungsangeboten zu sichern und die Chancen am Arbeitsmarkt zu verbessern, treten wir dafür ein, daß allen arbeitenden Menschen ein Recht auf bezahlte Bildungszeit eingeräumt wird und daß Arbeitslosen durch gezielte Bildungsangebote der Einstieg in die Arbeit erleichtert wird. Wir treten für den Ausbau der Erwachsenenbildung sowie für den Aufbau eines flächendeckenden, kostenlos zugänglichen Systems der Bildungsinformation und -beratung zur Orientierung im Weiterbildungssystem ein.