Politische Perspektiven:
III.8. Dienstleistung statt Bürokratie - für ein modernes Staatsverständnis

(1) Der Staat hat für den Interessensausgleich in der Gesellschaft zu sorgen, um den sozialen Zusammenhalt und die soziale Sicherheit und damit das friedliche Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Die Organe des Staates und deren Handeln müssen demokratisch legitimiert sein. Ein dauerhafter innerer Frieden der Gesellschaft kann nur durch Anwendung von allgemein anerkannten fairen Regeln und die gerechte und gleiche Behandlung der Bürgerinnen und Bürger erreicht werden.

(2) Wir glauben nicht, daß der Rückzug des Staates ein Wert an sich ist. Wir sind überzeugt, daß Deregulierung als Selbstzweck zu einer Spaltung der Gesellschaft führen kann. Wir sehen aber ebenso klar die Gefahr eines Übermaßes an Regulierung und Bürokratie, das die Menschen in ihrer Freiheit einengt statt ihnen zu helfen. Wir glauben, daß der Weg zu einem zukunftsorientierten Staatswesen nicht von mehr oder weniger Regeln, sondern von besseren und sinnvollen Regeln bestimmt wird.

(3) Wir brauchen einen aktiven, das heißt einen leistungsfähigen und effizienten Staat, der seine Abläufe an zeitgemäßen Modellen orientiert: Es muß mehr Autonomie, Eigeninitiative und Entscheidungsverantwortung des und der Einzelnen, entsprechend flachere Hierarchien sowie mehr Kundenorientierung und mehr Leistungsorientierung geben.

(4) Wir treten daher für eine Umgestaltung der Beziehungen zwischen Staat und Bürgerinnen bzw. Bürgern ein. Ihnen muß dabei mehr Freiraum und Eigenständigkeit eingeräumt werden. In diesem Zusammenhang treten wir für eine Erweiterung des Prinzips ein, daß dem Schwächeren stärkere Rechte gegeben werden. Das gilt nicht nur für die Geschäfte des täglichen Lebens und die Gewährleistung fairer Austauschverhältnisse, das gilt auch für all die Fragen des Schutzes der Umwelt, der Gesundheit usw, in denen Beweisschwierigkeiten den Schwächeren sehr leicht um sein Recht bringen.

(5) Im demokratischen Rechtsstaat kann es nur Macht geben, die durch das Recht legitimiert und begrenzt ist. Rechtsprechung soll dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit dienen. Der Rechtsstaat bindet die Ausübung der Macht an Recht und Gesetz. Die Bindung an die demokratische Verfassung, an Gewaltenteilung und gegenseitige Machtkontrolle legitimiert die staatliche Befugnis zur Durchsetzung der Rechtsordnung und zur Ausübung des Gewaltmonopols.

(6) Funktionen des demokratischen Rechtsstaats sind es, die Grund- und Menschenrechte umfassend zu sichern, eine humane Ordnung aufbauen und sichern zu helfen, dem sozialen Ausgleich zu dienen, den Schutz der Schwächeren zu gewährleisten und einen wirkungsvollen Beitrag zum Schutz vor Kriminalität zu leisten. Eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft muß jedem Menschen garantieren, daß er rechtzeitig und mit zumutbaren Kosten zu seinem Recht kommt. Lange Verfahren sind daher eine Form der Rechtsverweigerung. Hohe Kosten schließen sozial Schwächere vom Rechtsstaat praktisch aus. Die Erleichterung des Zugangs zum Recht und die Beseitigung sozialer Schranken bei seiner Durchsetzung bleiben daher eine zentrale Aufgabe sozialdemokratischer Politik.

(7) Gleichheit vor dem Gesetz und Gleichheit durch das Gesetz sind unverzichtbar, müssen aber auch im Vollzug der Gesetze wahrgenommen und durchgesetzt werden. Wir treten daher für ausgleichende Rechte zur Wahrung der Chancengleichheit ein. Wir befürworten eine weitere Entwicklung der Verbandsklage und der Gemeinschaftsklagmöglichkeiten zugunsten benachteiligter Gruppen (z.B. in Gleichbehandlungsfragen, aber auch bei Arbeitsrechtsansprüchen). Wir treten daher für eine Weiterentwicklung von Recht und Rechtsprechung zu mehr Prävention, für eine verstärkte zivilrechtliche Ordnungsautonomie der Bürger untereinander und für weniger obrigkeitsstaatliche Verwaltungsinstrumente ein.

(8) Im Rahmen umfassender Sicherheit haben alle Menschen das Recht auf wirksamen Schutz vor Kriminalität. Wir bekennen uns zum Kampf gegen die Kriminalität, wissen aber, daß eine Gesellschaft nicht umso sicherer ist, je härtere Strafen sie androht und verhängt. Ein erfolgreicher Kampf gegen Kriminalität hat wesentlich früher einzusetzen als im Gerichtssaal und wesentlich länger anzudauern als die Freiheitsstrafe eines Verurteilten.

(9) Dazu gehört vor allem der Kampf gegen die Ursachen von Kriminalität. Das Zurückdrängen von Arbeitslosigkeit, ein wirksames soziales Netz, ein funktionierendes Bildungssystem, gezielte Integrations- und Jugendarbeit wirken den sozialen Wurzeln von Kriminalität entgegen. In der direkten Verbrechensbekämpfung wollen wir durch bessere Ausstattung, bessere Aus- und Weiterbildung der Exekutive und verstärkte internationale Kooperation die besten Voraussetzungen schaffen.

(10) Der Schutz der Gesellschaft setzt auch ein modernes Strafrecht voraus, in dem den Interessen der Verbrechensopfer besondere Bedeutung zugemessen wird. Ein zeitgemäßer Strafvollzug ist die beste Gewähr gegen eine neue Straffälligkeit. Modelle des außergerichtlichen Tatausgleichs und der integrativen Sozialarbeit müssen weiterentwickelt werden.

(11) Die Unabhängigkeit der Justiz und ihrer Richter sind in gleicher Weise Basis jedes Rechtsstaates wie die freie Ausübung anderer Rechtsberufe. In einer Demokratie bedürfen sie jedoch auch der demokratischen Kontrolle. Der demokratische Charakter der Justiz ist insgesamt zu stärken, auch in der Laiengerichtsbarkeit, die insbesondere durch eine bessere Ausbildung der Laienrichter gestärkt werden soll.

(12) Im österreichischen Katalog an Grund- und Freiheitsrechten fehlen soziale Grundrechte nach wie vor zur Gänze. Wir fordern daher die Schaffung eines modernen Grundrechtskatalogs, der Basis einer modernen, sozialen, freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft sein wird. Dieser Grundrechtskatalog hat nicht nur die Beziehungen zwischen Bürgerinnen bzw. Bürgern und Staat neu zu ordnen, sondern auch das Zusammenleben der Menschen unter Wahrung ihrer Würde und des gegenseitigen Respekts voreinander zu gestalten. Dieser Grundrechtskatalog wird daher auch stärker die Praxis der Justiz zu prägen haben.

(13) Wir lehnen die Privatisierung von staatlichen Aufgaben in all den Bereichen, in denen es um Grundrechtsschutz oder Grundrechtseingriffe geht, ab. Dies sind unverzichtbare Staatsaufgaben, die der demokratischen Kontrolle und Legitimation unterliegen müssen.

(14) Auf Basis seiner demokratischen Legitimation muß der Staat definieren, welche Leistungen im öffentlichen Interesse erbracht werden sollen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten treten hier für klare Orientierung am Wohl der Bürgerinnen und Bürger, d.h. an der Qualität der Leistungen und an effizienter und preiswerter Aufgabenwahrnehmung ein. Ob Leistungen gemein- oder privatwirtschaftlich erbracht werden, ist danach zu entscheiden, wer bei vergleichbaren arbeits-, sozial- und umweltrechtlichen Bedingungen die Anforderungen in Bezug auf Qualität, Effizienz und Wirtschaftlichkeit am besten erfüllt, wobei vor allem auch der gesamtgesellschaftliche Nutzen berücksichtigt werden muß. Monopolistisches Verhalten lehnen wir auch auf diesem Feld ab.